* 35 *
Am Spätnachmittag saß Jenna, eingewickelt in eine klamme Tagesdecke, auf der klumpigen Matratze von Esmeraldas Bett. Neben ihr standen die Reste einer Mahlzeit, bestehend aus einer großen Pastete, knusprigem Brot, Käse, Äpfeln, Kuchen und Milch, die der Ritter des Tages wie versprochen den Koch hatte bringen lassen. Sie hatte die kleine Kerze neben dem Bett entzündet, und während sie dasaß und sich über der kleinen Flamme die Hände wärmte, hörte sie ein leises Klopfen an der Holztäfelung des Zimmers. Das Klopfen wurde lauter, dann wieder leiser, klang mal aufgeregt, mal kraftlos und verzweifelt. Jenna sträubten sich die Nackenhaare: Das waren die kleinen Prinzessinnen, und sie waren noch am Leben.
Jenna wusste, dass sie es nicht tun sollte, aber sie konnte einfach nicht anders und legte dort, wo das Klopfen herkam, das Ohr an die Täfelung. Zu ihrem Entsetzen vernahm sie ein schwaches Schniefen und die Schluckgeräusche eines erschöpften Schluchzens – eines Kinderschluchzens. Das war zu viel. Sie rannte zur Tür, trommelte mit den Fäusten dagegen und rief: »Sir Hereward! Sir Hereward! Sie sind hier. Ich kann sie hören – wir müssen sie befreien. Oh, Sir Hereward, bitte holen Sie Hilfe!«
Zu ihrer Überraschung kam der Geist durch die Schlafzimmertür geschwebt. Es gab nicht viele Menschen, für die Sir Hereward eine Tür passierte, aber manchmal musste es sein. Jetzt stand er neben Jenna und schüttelte den Kopf, um das unangenehme Gefühl loszuwerden, er sei voller Holz.
»Prinzessin«, sagte er, stützte sich auf sein Schwert und sah Jenna verdutzt an, »verzeihet meine Konfusion, aber meinem armen Hirn möcht scheinen, dass Ihr gewisslich eine königlich Prinzessin seid, doch nicht die arme Esmeralda, obgleich die Ähnlichkeit verblüffend ist.«
Jenna nickte. Sie wusste, dass sie Sir Hereward vertrauen konnte, aber sie bezweifelte, dass er verstand, was sie ihm jetzt sagen würde. »Ich bin Prinzessin Jenna«, flüsterte sie, nur für den Fall, dass jemand lauschte. »Ich komme aus einer Zeit in der Zukunft ...« Sie hielt inne, da sie nicht wusste, ob Sir Hereward verstand, was sie meinte.
Der alte Ritter war schneller von Begriff, als sie erwartet hatte. »Ach so, dann stammet Eure Art zu sprechen aus einer Zeit, die erst noch kömmt«, überlegte Sir Hereward. »Sie klinget freilich sonderbar, so geschwind und scharf fürs Ohr wie das Rasseln eines Vogelschnabels an den Gitterstäben seines Käfigs. In Eurem Palast muss ein gar arger Krach herrschen, Prinzessin Jenna.«
Jenna wollte gerade erwidern, dass ihr Palast ruhig und leer sei im Vergleich zu diesem hier, als das Klopfen in der Wand wieder einsetzte. »Da ... da ist es wieder«, flüsterte sie.
»Das sind die armen kleinen Prinzessinnen, Prinzessin Jenna«, seufzte Sir Hereward traurig.
»Aber wir müssen sie herausholen, bevor sie ersticken«, sagte Jenna, enttäuscht, weil Sir Hereward nichts unternahm.
»Sie sind bereits ersticket«, murmelte Sir Hereward und senkte den Blick auf seine rostigen Füße.
»Aber...«
»Was Ihr da höret, Prinzessin, sind Ihre ruhelosen Geister, die selbigen, die auch die arme Esmeralda hat gehöret. Hätt ich das wahre Wesen unserer Königin geahnt, hätt ich die Mädchen vielleicht retten können.«
»Aber sie waren doch ihre Töchter«, sagte Jenna. »Wie konnte sie nur ...«
»Mich dünkt, grad derowegen hat sie es getan«, sagte Sir Hereward ernst, »eben weil sie ihre Töchter waren. Mir ist da etwas Merkwürdiges zu Ohren kommen ... doch wage ich nicht zu glauben, dass es die Wahrheit ist.« Der Geist schüttelte den Kopf, wie um den Gedanken abzuschütteln.
»Was?«, fragte Jenna. »Was glauben Sie nicht?« Und dann begriff sie, dass ihre Ausdrucksweise dem Ritter unhöflich vorkommen musste, und so setzte sie ein wenig verlegen hinzu: »Ich bitt Euch, Sir Hereward, sagt mir, wenn es Euch beliebt, was Ihr nicht zu glauben wagt.«
Sir Hereward schmunzelte. »Meiner Treu«, sagte er, »jetzo scheint Ihr mir Prinzessin Esmeralda noch ähnlicher.« Jenna bezweifelte, dass diese Ähnlichkeit für sie und ihre Sicherheit gut war, aber sie nahm es als Kompliment.
»Wie es heißt, strebet die Königin nach dem ewigen Leben auf dieser Erden. Und sie soll diesem Ziel so nah seyn, dass sie keine Erben wünscht, dieweil sie für alle Zeit Königin bleiben will.« Sir Hereward stieß einen Seufzer aus. »Wie’s scheint, wird Etheldredda auf immer unsere Königin bleiben.«
»Nein, das wird sie nicht!«, rief Jenna.
Ein Hoffnungsschimmer glomm in Sir Herewards Augen auf. »Nicht, holde Jenna? Doch dass es auch gewiss so kömmt, müsst Ihr nun fliehn vor Eurer Ur-ur-und-so-weiter-Großmama, denn hier seyd Ihr nicht sicherer, als es die kleinen Prinzessinnen und die arme Esmeralda waren. Zwar bin ich nur ein Geist, doch selbst ein Geist kann Schlösser öffnen.« Damit legte Sir Hereward seine Hand mit dem verbeulten und rostigen Panzerhandschuh auf die Tür. Nach mehreren Minuten, und viel Geschnaufe und Gekeuche des alten Geistes, hörte Jenna, wie das Schloss aufschnappte.
»Ihr seid frei, holde Jenna. Viel Glück. Ich bin guter Dinge, dass wir uns Wiedersehen.«
»Das werden wir, Sir Hereward«, sagte Jenna.
Jenna war frei, aber sie wusste, dass sie nie wirklich frei sein würde, wenn sie Septimus nicht fand. Sie beschloss, in die Zaubererallee zu gehen, denn in der Burg gab es eine Redensart, und die lautete: Wenn du nur lange genug unter dem Großen Bogen stehst, kommen alle vorbei, die in der Burg leben. Die Stelle war so gut wie jede andere, um mit der Suche zu beginnen, und je früher sie dort war, desto besser. Sie winkte Sir Hereward, der respektvoll den Arm zum Gruß erhob, und machte sich auf den Weg.
Die Korridore waren hell erleuchtet und belebt. Das überraschte Jenna, denn sie war es gewohnt, dass es im Palast nachts dunkel war. Jedenfalls brannten in ihrem Palast nachts nur wenige Kerzen, denn Sarah Heap hatte ihr Leben lang gespart, und es fiel ihr schwer, mit dieser Gewohnheit zu brechen. Die Kerzen wurden in so großen Abständen voneinander aufgestellt, dass es viele dunkle Ecken gab, in denen sich eine flüchtige Prinzessin hätte verstecken können. Doch in diesem Palast war es ganz anders. Dafür sorgte Bertie Smalls, der königliche Kerzenwart. Bertie, ein großer dünner Mann mit feuerrotem Wuschelhaar und wachsbleichem Gesicht, drehte in der Nacht mit großem Eifer seine Runden. Er sah es als eine Frage der Ehre an, dass unter seiner Aufsicht niemals auch nur eine einzige Kerze ausging.
Am liebsten hätte Jenna einen der zahlreichen Abkürzungswege oder Dienstbotendurchgänge genommen, doch das war zu riskant. Einer Prinzessin würde es im Traum nicht einfallen, sie zu benutzen, und deshalb würde sie nicht lange unbemerkt bleiben. Nein, sie musste stattdessen ganz auf Frechheit setzen. Wer wusste denn schon, dass sie die Gefangene der Königin war? Und so marschierte sie los, hocherhobenen Hauptes und in der Hoffnung, dass die Leute glaubten, Prinzessin Esmeralda hätte jedes Recht der Welt, durch die Palastkorridore zu wandeln.
Sie kam gut voran, und sie fand sogar schon Gefallen daran, dass die Leute vor ihr Knickse und Verbeugungen machten und hinter ihr aufgeregt tuschelten, als sie plötzlich den Ritter des Tages auf sich zukommen sah. Der gutmütige Ritter lächelte und verneigte sich, und dann fiel ihm mit Schrecken wieder ein, dass er den Befehl erhalten hatte, Prinzessin Esmeralda in ihr Zimmer zu sperren. Schon sah er im Geiste seinen Kopf auf einen Pfahl am Nordtor gespießt, und so trat er vor Jenna hin und versperrte ihr den Weg.
»Ich bitt Euch, Prinzessin Esmeralda, erlaubt mir, Euch in Euer Gemach zu begleiten, bevor Eure Frau Mutter ...«
»Tut mit leid«, murmelte Jenna, »ich muss weiter.« Sie tauchte unter dem ausgestreckten Arm des Ritters durch und rannte los.
Vor die Wahl gestellt, Jenna entwischen zu lassen oder seinen Kopf zu retten, entschied sich der Ritter des Tages für seinen Kopf. Er jagte ihr nach. Er rief alle entgegenkommenden Diener und Beamte zu Hilfe, und bald wurde Jenna von einer langen und immer länger werdenden Schlange von Dienstboten verfolgt. Jetzt wurde es Zeit, die angesprochenen Abkürzungen zu benutzen. Jenna schlüpfte hinter einen dicken Brokatvorhang, der auch noch, wenngleich in Fetzen, in ihrem Palast hing. Sie flitzte eine kurze Treppe hinunter und durch einen dreieckigen Gang, schlüpfte in eine kleine Türöffnung und blieb neben einer Wendeltreppe stehen, um Atem zu schöpfen und auf ihre Verfolger zu lauschen. Das laute Getrappel in dem dreieckigen Gang verriet ihr, dass sie ihnen noch nicht entkommen war.
Sie wusste, was jetzt zu tun war. Sie rannte so schnell die Wendeltreppe hinauf, dass ihr die Beine schmerzten, sprang über den Treppenabsatz und löste den goldenen, mit Smaragden besetzten Schlüssel von ihrem Gürtel. Schwere Stiefel polterten hinter ihr die Treppe herauf, und mit zitternder Hand steckte sie den Schlüssel in das Schloss der smaragdbesetzten goldenen Tür zum Königinnengemach. Als die Verfolger oben ankamen, sahen sie gerade noch, wie die Prinzessin in einer festen Wand verschwand. Ein Aufschrei des Erstaunens ging durch die Schar auf dem Treppenabsatz.
Der Ritter des Tages sank stöhnend zu Boden und stützte den Kopf in die Hände, was ihn freilich nur daran erinnerte, wie sehr er an seinem Kopf hing – wenn auch, wie er fürchtete, nicht mehr sehr lange.